Deutschland Über Land

Das Leben ist schön

Eine Wanderung auf dem Ettersberg

Die Ahnung, dass diese Tage Anfang Mai ganz besonders werden würden, machte sich frühzeitig breit: Vor Monaten schon hatten wir Karten für ein Konzert von Achinoam Nini erstanden. Die Musik der israelischen Sängerin, die ich – wie wahrscheinlich die meisten – besser unter dem Namen NOA kenne, hatte mich Ende der 1990er erstmals verzaubert. In meinem kleinen Studentenzimmer nudelte die gleichnamige CD damals tage-, abende- und nächtelang hoch und runter.

Seit ein paar Jahren nun schaute ich in unregelmäßigen Abständen nach Konzertankündigungen von NOA. Rund um München, wo ich lebe, war nie etwas dabei, so dass ich mich schon irgendwohin nach Norditalien oder Südfrankreich reisen sah, um sie endlich einmal live zu erleben. Genau da wurden wir auf ein außergewöhnliches Musikprojekt aufmerksam – Letters to Bach. Die Liedermacherin würde damit unter anderem in Weimar auftreten, genauer: auf Schloss Ettersburg.

Klassisches & nationalsozialistisches Weimar

Schloss Ettersburg also. – Der Jagd- und Sommersitz der herzoglichen Familie von Sachsen-Weimar und Eisenach, auf dem sich Ende des 18. Jahrhunderts für einige Sommer der literarische Kreis von Anna Amalia traf. Wieland, Herder und Goethe gingen hier ein und aus. Später vollendete Schiller an diesem Ort seine Maria Stuart. Heute gehört das Schloss mitsamt seinem Englischen Landschaftspark zum Unesco-Weltkulturerbe Klassisches Weimar.

Das Schloss auch, von dem keine drei Kilometer Luftlinie entfernt ab 1937 die Nazionalsozialisten eines ihrer größten Konzentrationslager, das KZ Buchenwald errichteten, dort rund 266.000 Menschen internierten und für sich arbeiten ließen. Im Lager kamen bis 1945 schätzungsweise 56.000 Menschen aus ganz Europa ums Leben – Homosexuelle, Juden, Kriegsgefangene, Regimegegner, … kurz: potenziell jeder, der nicht genehm war.

An diesem Maiabend 2019 auf Schloss Ettersburg stellt NOA zu meiner Überraschung nicht nur ihre Letters to Bach vor, sondern lässt zunächst einige ihrer bekanntesten Lieder in dem Schlosssaal erklingen. Lieder, die mich all die Jahre begleitet haben. Und dann ist da noch das Lied Beautiful that way, das sie gemeinsam mit Gil Dor und Nicola Piovani für den Oscar-prämierten KZ-Film La vita è bella schrieb. „Smile, without a reason why. Love, as if you were a child …“, singt sie gemeinsam mit uns auf Englisch, bevor sie ins Hebräische wechselt, während das Publikum mitsummt.

Auf der Zeitschneise

Die Eindrücke des Vorabends schwirren mir durch den Kopf, als wir morgens zu unserer kleinen Wanderung aufbrechen: Von Schloss Ettersburg geht es über einen buchengesäumten Wiesenhang, den sogenannten Pücklerschlag, den Ettersberg hinauf. 

Am Ettersberg: Blick von Schloss Ettersburg den Pücklerschlag hinauf zum Jagdstern.

Am Ende der breiten Waldschneise treffen wir auf den ehemaligen Jagdstern, von dem zu herzoglichen Zeiten Jagdschneisen in alle Richtungen geschlagen waren. Die vom Stern nach Westen ausgerichtete, ehemalige Grünehausallee hatte den Nationalsozialisten beim Bau des Konzentrationslagers als Bezugslinie gedient. Als Weimar 1999 Kulturhauptstadt war, wurde sie wieder hergerichtet und als Zeitschneise begehbar gemacht.

Auf der Zeitschneise dauert es nicht allzu lang und wir gelangen im quietschfrischen Buchenwald zu verwitterten Betonpfosten des ehemaligen Lagerzauns und auf die dazugehörigen Wachtürme. Durch die grüne Hintertür gehen wir aus der Weimarer Klassik direkt in den Nationalsozialismus. Ich bin zunächst irritiert, denn ich hatte mir das eigentliche Lager größer vorgestellt. Dann wieder: die uns bekannten Relationen sind schnell aufgehoben, wenn wir ganz konkret versuchen zu verstehen, wie die Gefangenen in den Baracken zusammengepfercht waren.

Ein Gedanke geht mir nicht mehr aus dem Kopf: Einerseits hat – Hand aufs Herz! – jeder von uns schon mehr als einmal gestöhnt, wenn wir uns wieder und wieder mit dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt haben; in der Schule, während des Studiums, im Alltag. Andererseits kommen wir allzu schnell ins Schlingern, wenn wir das Wie und Warum der Geschichte selbst ganz konkret in Worte fassen sollen und wollen.

Die Zeit verschwimmt. Mehrere Stunden bleiben wir auf dem Gelände vom Konzentrationslager Buchenwald, das nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1950 auch noch als Speziallager Nr. 2 Buchenwald von den sowjetischen Besatzern genutzt wurde, wo mehr als 7.000 Menschen an Hunger starben. Wir schauen uns um und tauschen Gedanken aus, wir lesen und schweigen. 

Zurück ins Heute

Die Waldwanderung zurück zum Schloss Ettersburg ist für mich die in diesem Moment passende Art, um die Eindrücke des Tages nachhallen zu lassen. Abgelenkt durch nichts außer dem unverschämt fröhlichen Frühlingsgrün können die Gedanken ein wenig zur Ruhe kommen. 

Der Ettersberg ist heute namensgebend für die in Weimar ansässige Stiftung Ettersberg, die die europäischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts erforscht: Der spanische Schriftsteller und Buchenwald-Überlebende Jorge Semprún regte sie an, als er 1994 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegennahm. Seine Idee war es, den historischen Raum auf dem Ettersberg zu nutzen, um eine europäische Institution zu schaffen, die sich der Gedächtnisarbeit und der demokratischen Weiterentwicklung verpflichtete.  

Warum diese Erinnerungsarbeit so wichtig ist, immer wichtiger wird, als Verpflichtung für die Gesellschaft und Aufgabe für jeden einzelnen? Auf dem Ettersberg, in Thüringen, in Deutschland, in Europa? Wegen unserer gemeinsamen Geschichte. – Jorge Semprún, der seine Buchenwald-Erfahrung in Büchern wie Die lange Reise oder Was für ein schöner Sonntag verarbeitete, sagte:

„Der Tag wird kommen, relativ bald, an dem es keine Überlebenden von Buchenwald mehr gibt. Es wird kein unmittelbares Gedächtnis von Buchenwald mehr geben: niemand wird mehr mit Wörtern der körperlichen Erinnerung sprechen können, nicht nur mit den Worten einer theoretischen Rekonstruktion sagen, wie der Hunger, der Schlaf, die Angst gewesen war, die gleißende Gegenwart des absoluten Bösen – in dem Maße absolut, wie es in jedem von uns nistet.“

Schloss Ettersburg in Thüringen

Das Deutsche Historische Museum fragt in seiner aktuellen Blogparade (noch bis zum 28. Mai 2019) unter dem Hashtag #DHMDemokratie, was uns Demokratie bedeutet.

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