Nationalparks

Der Luchs kauft nicht bei Lidl ein

Slowakei Biosphere Expedition

Bei den großen Jägern der Wälder

Kadaver“. Ein Wort, das für gewöhnlich nicht zum Wortschatz meiner Winterwanderungen gehört. Aber heute geht es auch nicht um eine gewöhnliche Winterwanderung. Sondern um eine kleine, feine und astreine Expeditionstour.

Im schattigen Tal stehen wir knietief im Schnee. Vor uns die letzten Überbleibsel eines sonst recht frisch wirkenden Rehkadavers. Einzig der Kopf, eine leicht verdrehte Wirbelsäule und die beiden Hinterläufe sind übrig. Ringsum deutliche Spuren mehrerer Luchse. Am vorherigen Abend müssen sie hier ein wahres Festmahl genossen haben. Nicht im Supermarkt besorgt. Sondern selbst erlegt, versteht sich.

In den Karpaten

Besagtes Tal ist das L’ubochňa-Tal in der Slowakei. Gelegen im Nationalpark Veľká Fatra (Große Fatra) bilden die Berge ringsum mit ihren bis zu knapp 1.600 Metern so etwas wie die letzten nennenswerten alpinen Erhebungen des riesigen Karpatenbogens, bevor dieser Richtung Westen endgültig in der Ebene ausläuft.

Mit seinen 25 Kilometern ist das L’ubochňa-Tal das längste der Slowakei. Es stellt gleichzeitig den Großteil der gut 400 Quadratkilometer umfassenden Großen Fatra dar. Den Nationalparkstatus gabs im Jahre 2002. Womit der Nationalpark Große Fatra der jüngste der derzeit insgesamt neun slowakischen Nationalparks ist.

Eines der für Nationalparks typischen Hinweisschilder zeigt auch den hiesigen Eingang des Schutzgebietes an. Gezimmert aus langen, robusten Holzplanken wirkt es dennoch so unscheinbar, dass ich es erst bei der dritten Durchfahrt und auf Nachfrage wahrnehme.

Slowakei

Eine Woche lang fahren wir jeden Morgen um acht in das Anfang Februar tief verschneite Tal. Wir sind auf der Suche nach Spuren der großen Jäger der Wälder. „Wir“, das sind zwölf Laienforscher. Uns verbindet das Interesse an den „Big Three“ – Wolf, Luchs und Bär, die in den Karpaten heimisch sind. Weshalb wir ein slowakisches Forscherteam begleiten.

In Vierergruppen durchstreifen wir jeden Tag mehrere Stunden gemeinsam mit den Forschern und Expeditionsleitern die Wälder des Nationalparks. Wir helfen dabei, Hinweise auf die Anwesenheit der Raub- und auch Beutetiere zu sammeln. Damit sollen verlässliche Daten über die Wolf-, Luchs- und Bärenpopulation erhoben werden.

Die Slowakei ist eines der europäischen Länder, in denen die meisten dieser Tiere beheimatet sind. Doch die offiziellen Zahlen sind um ein Vielfaches höher als die Schätzungen der Forscher vor Ort: Die einen gehen von 2.000 Wölfen im Land aus, die anderen von maximal 400. Die einen sprechen von bis zu 2.400 Bären in der Slowakei, die anderen sagen, es gäbe höchstens 800 von ihnen. Auch bei den Luchsen sind die Unterschiede in den Schätzungen ähnlich groß. Dabei gilt gerade der Luchs, Europas einzige große Raubkatze, auf dem gesamten Kontinent als gefährdet. Grund genug, die Populationen im Tal genauer zu beobachten. Vor allem im Winter können sie recht ungestört hier leben.

Tourismus und Holzindustrie

Zwar gehen Schätzungen der Nationalparkbehörde von jährlich rund 500.000 Touristen aus, die die Große Fatra jedes Jahr besuchen. Doch nur ein Bruchteil ist wahrscheinlich im L’ubochňa-Tal unterwegs. Und vor allem im Winter dürften sich nur einige Handvoll Besucher hierher verirren. Denn die schmale Straße, die sich durch das Tal zieht, ist für den motorisierten Verkehr gesperrt. Nur mit Sondererlaubnis geht’s hier mit dem Auto hinein. Für das Expeditionsteam genauso wie für Förster. Und für die Arbeiter der Holzindustrie.

Täglich sehen wir große Holztransporter mit ihrer Fracht aus dem Tal fahren. In den letzten Jahren habe sich der Holzeinschlag verdoppelt. Das Holz wird hauptsächlich nach Polen und Skandinavien verkauft, erfahren wir. Tatsachen, die nicht so recht zum Verständnis eines Nationalparks passen wollen. Denn an und für sich soll es in einem Nationalpark keinen kommerziellen Holzeinschlag geben. Dahingegen nachhaltige (Tourismus-)Angebote gefördert werden.

Wissenschaft light

Unsere Laienforschergruppe ist ein guter Querschnitt aus Touristen verschiedener Länder, Alters- und Berufsgruppen. Das Gros stammt aus Großbritannien oder dem deutschsprachen Raum. Außerdem aus Belgien, Australien und der Ukraine. Vom Gymnasisten bis zum Fondmanager, von der Tierpflegerin bis zum Marketingexperten ist alles dabei.

Alle möchten im Urlaub lieber durch den Schnee stapfen statt am Strand sonnenbaden. Etwas Sinnvolles tun, bei dem man etwas lernen kann. Angebote gibt es auch für Reisende wie uns zuhauf. Vor allem im englischsprachigen Raum ist der sogenannte Volunteer Travel oder auch Voluntourismus schon seit vielen Jahren weit verbreitet.

Die freiwillige Mitarbeit bei dem slowakischen Raubtier-Forschungsprojekt ist nur eine Form dieses Voluntourismus. Gleichzeitig eine sehr spezielle, denn die Idee hinter Projekten wie diesen ist, professionelle Wissenschaftler mit interessierten Amateuren zusammenzubringen.

Auch in der Großen Fatra tragen wir gemeinsam zur Feldforschung bei. Sammeln Informationen. Am Ende der Woche werden wir auf 17 verschiedenen Routen insgesamt 228 Kilometer abgelaufen sein. Wir werden zehn Luchsspuren und 23 Wolfsspuren gefunden haben. Einzig die Bären lassen sich – wenig überraschend – nirgens blicken. Sie verschlafen den Winter in ihren Höhlen.

"Highway" treten für die Wissenschaft
„Highway“ treten für die Wissenschaft

Die Ergebnisse unserer Feldforschung werden später vervollständigt sowie professionell analysiert, interpretiert und in Form eines ausführlichen Expeditionsreports den Teilnehmern und der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Glaubwürdigkeit des Projekts und Sinnhaftigkeit der Arbeit sind das A und O für alle Beteiligten. Hier muss die gemeinnützige Naturschutzorganisation ihr Angebot genauso legitimieren wie jeder andere kommerzielle Anbieter von Volunteering-Reisen.

Forschertrick: Highway treten

Draußen in der Natur machen wir uns über diese Fragen weniger Gedanken. Stattdessen treten wir, einer hinter dem anderen, mit unseren Schneeschuhen einen kleinen „Highway“ durch den Schnee, wie die Forscher es nennen.

In der Natur geht es permanent um Leben und Tod. Um das Vergeuden oder Einsparen von Energiereserven. Da nehmen auch Wolf und Luchs gerne den schon vorgetretenen, leichten Weg statt eigene Spuren durch die tief verschneite Landschaft zu ziehen.

Mit etwas Glück findet sich beim erneuten Abgehen der Runde ein, zwei Tage später auf dem „Highway“ manch frische Tierspur. Mit besonders viel Glück bekommt man dann auch das eine oder andere Tier aufs Foto: Entlang solcher Wege bauen wir neue Foto-Fallen auf oder tauschen Speicherkarten an bereits eingerichteten Kameras aus. Und hoffen auf regen Wild- und Raubtierwechsel.

Große Spannung: Austausch der Speicherkarte. Sind Wolf und Luchs auf einigen der Bilder?
Große Spannung: Austausch der Speicherkarte. Sind Wolf und Luchs auf einigen der Bilder?

Doch erst einmal tut sich nicht viel. Während unserer ersten Tage finden wir vor allem Spuren vom Baummarder, vom Fuchs und vom Reh. Und Hirsche, Hirsche, Hirsche. Als kleines Highlight muss zunächst ein Steinadler genügen, der sich mit seinen kraftvollem Flügelschlag vom Boden erhebt.

Auf falscher Fährte

Über diese Spur freut sich der Wolfsforscher. (c) Alex
Über diese Spur freut sich der Wolfsforscher zu Recht. (c) Alexander Petschnig

Zum Alltag – nicht nur – von (Laien-)Forschern gehört es auch, sich mal zu täuschen. So passiert es auch uns: Riesig ist die Freude darüber, bei einer unserer Touren eine Wolfsfährte entdeckt zu haben: In der etwa 70 cm breiten, am Vortag mit Schneeschuhen gezogenen Trittspur können wir den Pfotenabdruck gut ausmachen.

Wir spulen die gelernten Arbeitsschritte ab: Markieren die Fundstelle in unserem GPS-Gerät, das bereits seit dem Start am Morgen zuverlässig unsere Route aufzeichnet. Zücken das Lineal und vermessen die Größe des Abdrucks. Nehmen Breite und Länge. 8,5 mal 11 Zentimeter sind es. Tragen die Daten zusätzlich mit Bleistift in ein Datenblatt ein. Machen Beweisfotos.

Etwa fünf Minuten können wir unseren Sucherfolg genießen, bis der Fachmann uns vorsichtig andeutet, dass er sich nicht ganz sicher sei. Einige Indizien sprechen dafür, dass es sich nicht um die Spuren von Isegrim handelt. Ein paar weitere Minuten später steht fest: Mit Sicherheit sind es nur die Spuren eines großen Hundes, der einen Tourengeher begleitet hat.

Luchsspuren!

Umso vielversprechender sind die Neuigkeiten, die uns per Walkie-Talkie aus dem Tal erreichen. Gleich zwei Gruppen sind an diesem Nachmittag fündig geworden. Sie haben je einen frischen Kadaver gefunden. Umgeben von unzähligen Luchs- bzw. Wolfsspuren. Auch die Arbeit für den nächsten Tag ist damit klar: Ausgehend von den Fundstellen wird den Spuren gefolgt. Wird eingesammelt, was die Luchse und Wölfe hinterlassen haben: Der Urin kommt in Röhrchen, Kot in kleine Plastiktüten. Später wird von den Profis alles ausgewertet. So lässt sich im Zweifelsfall nicht nur abschließend klären, dass es sich um die vermutete Tierart handelt. Im besten Fall lässt sich sogar ganz genau sagen, welches individuelle Tier unsere Wege gekreuzt hat.

Endlich: Luchsspuren
Endlich: Luchsspuren

Muro, ein Luchsmännchen, ist so ein spezieller Fall: Vor einigen Jahren wurde er gemeinsam mit seiner Schwester Lisa ausgewildert. Beide wurden im Zoo in Ostrava geboren. Ab dem Baby-Alter wurden sie von Wildhüter Milos Majda aufgezogen. Erst in der Wohnung in Bratislava, später dann in einer einfachen Berghütte im L’ubochňa-Tal in den Karpaten. Dort wie hier haben die kleinen Raubkatzen allmählich alles zerlegt. Sie bekamen bald ein Außengehege und erkundeten auf immer ausgedehnteren Ausflügen den umliegenden Wald. Bis sie irgendwann nicht mehr zurückkehrten. Tomas Hulik hat dieses Auswilderungsprojekt mit der Kamera begleitet, woraus der sehenswerte Film „Milos und die Luchse“ entstand.

Damals, als die Luchsgeschwister in den Bergen verschwanden, hatten die Forscher Bedenken, ob es nicht zu zeitig für die Luchse war. Würden sie, auf sich allein gestellt, überleben können? Noch kurz versuchten die Forscher, die Luchse mit Hilfe einer großen Lebendfalle, zusammengezimmert aus langen Holzbrettern, wieder einzufangen. Aber die Luchse blieben verschwunden.

Vor genau diesem inzwischen windschiefen Holzverschlag stehen wir eines Nachmittags an einem dicht bewaldeten Berghang. Ein Stückchen weiter oben hatten wir Luchsspuren entdeckt. Sehr gut möglich, dass es die Spuren von Muro sind, meint Tomas. Schließlich ist das früher das Revier des jungen Luchses gewesen. Die Chancen sind tatsächlich groß, denn im Tal gibt es nur acht bestätigte Tiere. Bis zu maximal zwölf Tiere könnten es sein, schätzen die Forscher. Und wer weiß, vielleicht geht ja auch der Rehkadaver, vor dem wir später, weiter unten im Tal stehen werden, mit auf Muros Konto …

Spuren vermessen

Weiterführendes:

Auch nach Deutschland wandern seit einigen Jahren wieder Luchse und Wölfe ein. Eine gute Einführung rund um die europäischen „Big Three“ gibts beim Naturschutzbund Deutschland.

Filmtipp: „Milos und die Luchse“/ „The lynx liaison“. Auf DVD und immer wieder auch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen.

Lesetipp: „Citizen Science. Das unterschätzte Wissen der Laien“ von Peter Finke (oekom Verlag)

Den Veľká Fatra Nationalpark habe ich auf Einladung von Biosphere Expeditions besucht.

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