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Schafe, wie die Zeit vergeht …

Beim Schnalstaler Schafabtrieb

Irgendwie scheint’s doch, als sei’s erst gewesen, dass wir die Schafe auf die Weiden getrieben haben. Nun, nach einem gefühlt verdammt kurzen Almsommer bin ich wieder am Alpenhauptkamm. Denn wie jedes Jahr Anfang September führen die Schnalstaler Schäfer ihre Tiere von den Tiroler Sommerweiden zurück nach Hause. Es ist eine Jahrhunderte alte Tradition, bei der es für Mensch und Tier anstrengend über einen 3.000 Meter hohen Pass geht. Doch bevor es soweit ist, gibt es eine Menge zu tun:

Mitten im Gebirge bei strahlendem Sonnenschein auf der Wiese sitzen und durchs Fernglas schauen. – Es gibt ja so Arbeiten, bei denen käme im Vorbeiwandern kaum jemand auf die Idee, dass es sich überhaupt um Arbeit handelt. Dabei ist das, was auf den ersten Blick so gemütlich, entspannt und nahezu idyllisch wirkt, Teil einer sogar ziemlichen Sysiphos-Arbeit: Schafe zusammensammeln am Berg.

Anfang Juni hatte Elmar mit seinem Team gut 1.000 Schafe vom Schnalstal über den Alpenhauptkamm auf die Weidegründe ins Niedertal gebracht, einem kleinen Seitental des Ötztal in Tirol. Nun, Anfang September geht es schon wieder retour nach Südtirol.

Elmar sucht mit dem Fernglas den gegenüberliegenden Berghang nach vereinzelten Tieren ab. Per Walkie-Talkie tauscht er sich mit seinen Helfern aus, die drüben den Hang absteigen und gerade eine große Felsplatte queren müssen, gemeinsam mit mehreren Dutzend Tieren. Mit Elmars Hilfe werden sie auf ihrem Abstieg zum Niedertalbach auch noch die restlichen Schafe finden, die im Auf und Ab des Hanges oder hinter Felsbrocken versteckt, grasen.

Alle da?

Am Abend dann trifft der ganze Trupp auf der Martin-Busch-Hütte ein. Im großen Pferch neben der Alpenvereinshütte sind nun alle Tiere, die den Sommer auf den Tiroler Weiden verbracht haben, versammelt. – Fast alle: Gabi, die ebenfalls beim Abtrieb hilft, hatte schon einen leisen Seufzer ausgestoßen, als sie am frühen Abend erfuhr, dass wir noch einige braune und weiße Punkte am Hang entdeckt hatten. Am vermeintlich schaf-leeren Hang.

Gabi ist gemeinsam mit Elmar und ein paar anderen schon seit knapp einer Woche hier. Jeden Tag ging es für sie zeitig raus, um stundenlang in den steilen Bergwiesen die Schafe zusammenzutreiben. Und nun also das: Noch sechs oder sieben Schafe am Berghang gegenüber. Luftlinie ist der gar nicht so weit von der Martin-Busch-Hütte entfernt. Doch zwischen Hütte und Schafen liegt der Schalfbach, der nach diesem warmen Tag stark vom Gletscherschmelzwasser angeschwollen ist. Es gibt kein Hinüber. Die Schafe müssen vorerst bleiben, wo sie sind …

Los gehts!

Am nächsten Morgen: Herbstwetter vom feinsten. Trocken. Sonnig. Klare, aber warme Luft. So warm – die Hirten können sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal beim Abtrieb solche Bedingungen hatten.

Elmar öffnet den Pferch und die rund 1.400 Schafe, auf die die Herde über den Sommer angewachsen ist, strömen die Wiese hinauf. Flankiert werden die Tiere von Hilfshirten und spontanen zusätzlichen Helfern. Links und rechts von der Herde laufen sie mit den Schafen Richtung Niederjoch hinauf. Hinten schließen ein paar Treiber den wolligen Tross ab.

Jeder Helfer zählt. Zwar haben die Hirten drei, vier Hunde dabei. Aber die sind wohl noch zu jung oder unerfahren, um eigenständig alle beisammen zu halten. Und die Schafe haben vor allem eines im Kopf: Hinrennen zum nächsten grünen Grashalm, an dem sie rupfen, zur nächsten frischen Diestel, an der sie herumknabbern können. Würde man sie einfach machen lassen, wären sie sicher im Nu wieder auf alle Hänge entschwunden. So aber geht es wollig wabernd das Tal hinauf.

Früher mussten die Hirten auf dem Weg zur Similaunhütte etwas weiter ausholen, denn ins Tal ergoss sich die Gletscherzunge des Niederjochferner. Davon ist hier jedoch nichts mehr übrig und es geht die Direttissima unmittelbar neben dem Bach entlang.

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Kurz noch mal Reserven anfuttern …

Nadelöhr für den Wollfaden

Ein wenig hakelig wird’s dann doch, unterhalb des verfallenen Zollwachthauses, das auf die Grenze zwischen Tirol und Südtirol hinweist: Während sich im Geröll eigentlich alle Vierbeiner auf den schmalen Bergpfad zum Joch hinauf einordnen sollen, fühlen sich einige Schafe unbeobachtet, scheren rechts aus und marschieren strammen Schrittes in eine steile Geröllhalde hinein. Keiner der Hilfshirten kommt da schnell genug hinterher.

Ein lautes Fluchen von vorn geht im ohrenbetäubenden Gebimmel der Schafsglöckchen unter; eine gute Weile später haben ein paar Erfahrene samt Hunden das Malheur wieder gerichtet. Die abtrünnigen Schafe sind über einen kleinen Umweg wieder eingereiht und marschieren schnell unter den Augen vieler Schaulustiger, die extra wegen der Schafe hier hinauf gekommen sind, an der Similaunhütte vorbei.

Hier oben, auf 3.019 Metern, ist der höchste Punkt erreicht, nun geht es steil und in vielen Kehren hinab Richtung Vernagtstausee, der in der Ferne, weit unten im Tal, schon türkisfarben schillert. Der Pfad, der sich normalerweise recht schmal den Hang hinunterschlängelt, wird nun breitgewalzt von den tausenden Hufen. Und auch hier ist es schwierig, alle Schafe beisammen zu halten. – Der eine Trupp setzt sich frühzeitig links in die flacheren Geröllhänge ab; drei Ausreißer spazieren rechts hinein in den steilen Fels oberhalb unseres Trosses. Helfer und Hunde wieder so gut es geht hinterher …

Später erfahre ich: Die Schafe der verschiedenen Rassen ticken ganz unterschiedlich. Besonders gerne machen sich wohl die Juraschafe von dannen. Ganz gemütlich dahingegen seien die Bergschafe. Auch die Schwarznasenschafe, die’s mir persönlich ja wegen ihrer lustigen Zeichnung und der gedrehten Hörner ziemlich angetan haben, scheinen einfacher zu handhaben.

Weiter unten, wieder im Grün, verschnaufen wir dann noch mal alle ausgiebig. Hirten und Treiber ziehen etwas zu trinken und eine Brotzeit aus ihren Rucksäcken. Die Lämmer lassen sich während dessen erschöpft an der erstbesten Stelle plumpsen. Bewundernswert ists ja schon: Ein paar der Lämmer sind gerade mal eine Woche alt. Und trotzdem laufen sie eigenständig den langen Weg bis nach Südtirol. Einzig das allerkleinste Lamm, gerade vor ein oder zwei Tagen geboren, trägt einer der Hirten heute in einer offenen Kiepe huckepack über die Berge.

Die älteren Schafe machen in der Pause das, was sie am liebsten tun: Genüsslich am Gras zupfen. Ich ahne, welche Freude das für die Tiere sein muss, denn ein kräftiger Kräutergeruch dringt mir in die Nase. Welch betörend duftender Bergherbst!

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Fast geschafft: Rast oberhalb von Vernagt

Schlussspurt

Selbst nach der Pause ist die letzte Stunde nach Vernagt noch mal ordentlich anstrengend. Durch felsdurchsetzte Wiesen. Kurz und steil hinunter zu kleinen Bachläufen. Auf der anderen Seite ebenso steil wieder hinauf. Über Stock und Stein. Irgendwann auf einer Wegspur landend.

Hinter den Schafen haben sich inzwischen immer mehr Wanderer eingereiht. Traditionell kommen viele dem Schaftross ein wenig entgegen, begrüßen die Tiere und die Hirten. Unter dem Klatschen  vieler Schaulustiger geht’s später die finalen Meter ins Dorf. Dort sortieren die einen noch die Schafe auseinander, während die anderen schon beim kleinen Fest anstoßen.

Ach ja

Und die „Nachzügler-Schafe“, die am Vorabend noch am Berg gegenüber standen? – Die werden ein paar Tage später nachgeholt. Entweder geht ein Hirte in ein paar Tagen nochmals über das Niederjoch zur Hütte. Oder, falls es wirklich nur wenige Tiere sind, fährt man sie mit einem Anhänger „um den Berg herum“. Und auch das gehört dazu: „Ein bis zwei Prozent frisst der Berg“, wie die Schäfer sagen. In diesem Jahr zum Beispiel bei einem Steinschlag zwischen der Martin-Busch-Hütte und Vent. Doch diese finale Rechnung wird erst ganz zum Schluss gemacht.

Apropos Anhänger – Eine Frage schießt einem ja dann doch durch den Kopf: Wäre es nicht eines Tages, sagen wir in 20 Jahren, viel einfacher, alle Tiere einfach ins Ötztal zu fahren, statt den beschwerlichen Weg über die Berge auf sich zu nehmen? Auf diese Frage höre ich immer wieder ein deutliches „Nein“. – Das würde so schnell nicht geschehen. Bei der großen Zahl der Tiere wäre das viel zu aufwändig, viel zu zeitintensiv. So stehen die Chancen wohl ganz gut, dass diese Jahrhunderte alte Tradition, die Österreich im Jahr 2011 sogar in seine UNESCO-Liste des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen hat, noch eine Weile erhalten bleibt.

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Ganz hinten folgt der „Kindergarten“

Noch ein paar Infos

Mehr auch zum Wieso? Weshalb? Warum? des traditionellen Schafübertriebs zwischen dem Schnalstal und dem Ötztal liest du in diesem Artikel über den Auftrieb zum Beginn des Almsommers.

Termine: Der Auftrieb findet jedes Jahr Anfang Juni, der Abtrieb Anfang September statt. Genauere Infos dazu auf den Seiten von Ötztal Tourismus bzw. Schnalstals Tourismus. Die Rückkehr der Schafe wird in Vernagt mit einem Hirtenfest ausgiebig gefeiert.

Anreise: Mit Bus und Bahn regelmäßige Verbindungen bspw. ab München über Innsbruck – Ötztal (Bhf) – Sölden nach Vent (Österreich). Oder über Bozen – Meran – Naturns nach Vernagt (Italien).

Unterkunft: Auf der Martin-Busch-Hütte (Alpenvereinshütte) oder auf der Similaunhütte (privat). Alternativ gibt es in den Talorten Vent und Vernagt verschiedene Unterkünfte, bspw. direkt oberhalb des kleinen Festareals und mit schönen Blick auf den See den Leithof oder das Hotel Edelweiss.

Tourentipp: Die beiden beliebtesten Bergziele entlang der Schafübertrieb-Route sind eine Hochtour auf den Similaun sowie eine Wanderung zur Fundstelle von der Gletschermumie Ötzi, etwas oberhalb der Similaunhütte.

Essen: Rund um den Schafabtrieb gibt’s im Schnalstal die „Spezialitätenwochen Transhumanz“, in denen die Küchenchefs verschiedener Hotels und Hütten traditionelle und traditionell inspirierte Rezepte rund ums Lamm anbieten.

Das große Sortieren: Jedes Schaf zu seinem Bauern
Nach der Ankunft: Das große Sortieren – Jedes Schaf zu seinem Bauern

Transparenzhinweis: Der Tourismusverein Schnalstal und Österreich Werbung haben diese Reise mit Anreise und Übernachtung unterstützt. 

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