Hölzchen und Stöckchen Italien

Das Hiroshima der Alpen

Ein Besuch in Longarone

Ich blicke aus dem Fenster des Post-Hotel in Longarone. Ich schaue direkt auf eine rund 200 Meter hohe Staumauer, die wie gequetscht in einem eng eingeschnittenen Tal erscheint. Was, wenn sie bricht? – Nicht auszudenken!

Das Undenkbare, Unbegreifliche ist am 9. Oktober 1963 passiert: Durch das Aufstauen des Vajont-Stausees gab es vom Monte Toc einen Bergrutsch, der wiederum eine große Flutwelle nach sich zog. Das Wasser stürzte über die Mauerkrone, schwappte innerhalb kürzester Zeit über Longarone und zerstörte den Ort vollständig. Rund 2.000 Menschen starben, nur einige wenige Einwohner überlebten.

Während der Vorbereitung unserer Wanderung von München nach Venedig hatte ich von der Staudamm-Katastrophe in der Vajont-Schlucht gelesen, hatte sie aber wieder aus den Augen und aus dem Sinn verloren. Und war umso erstaunter, als wir jetzt plötzlich mitten im Ort des Geschehens stehen.

Bei der Ankunft in Longarone nehmen wir vor allem eins wahr: Beton. Unglaublich viel Beton. – Beton, der schnell hochgezogen und gesichtslos scheint. Beton, der aber auch aussieht als wolle er sagen: Macht euch keine Sorgen, hier seid ihr sicher. Erst, als wir mitten im Ort vor der Kirche eine Info-Tafel lesen, wird uns klar, warum Longarone aussieht wie es aussieht. Welch leidvollen Grund dieser ganze 60er-Jahre-Beton hat.

Wir erfahren später, dass heute hinter der Staumauer keine Gefahr mehr lauert – der Stausee wurde nie wieder aufgefüllt. Am nächsten Tag, auf dem Friedhof der Opfer von Vajont, sehen wir auch Erinnerungsstücke, die aus den Schlammmassen geborgen wurden. Vor allem Uhren bleiben mir im Gedächtnis – Armbanduhren, Taschenuhren. Herren- und Damenmodelle. Sie alle sind zur gleichen Zeit stehengeblieben; kurz nachdem die Flutwelle über die Dammkrone preschte. Um 22:39.

Bedrückend ist die lange Gedenktafel an der nach dem Unglück gebauten Kirche des Ortes. Ergreifend, sich das Unglück und das Nicht-Entkommen-Können vorstellen zu wollen. Die Fragen, wie es sich lebt als einer der wenigen Überlebenden. An diesem Ort oder woanders. – Ähnliche Fragen habe ich mir vor vielen Jahren gestellt. In Hiroshima.

Longarone Staudamm Unglück von Vajont (8)

Weiteres:

Das Staudamm-Unglück von Vajont war die größte Katastrophe in Italien seit dem zweiten Weltkrieg. Außerhalb Italiens ist dieses Ereignis heute allerdings kaum bekannt.

Ausführliche Hintergrundinfos gibt es unter anderem hier, hier und hier.

Zentral in Longarone gibt es das Longarone Vajont Museum. Texte (im Jahr 2015) leider nur auf Italienisch, wenige Infos in einem englischen Flyer.

In der Nähe des Museums befindet sich auch die moderne Gedenkkirche Chiesa di Santa Maria Immacolata.

Wer Zeit hat: Südlich von Longarone, auf dem Weg nach Belluno, liegt der Friedhof für die Opfer des Staudamm-Unglücks.

Übernachten: Ganz zentral, im Hotel Posta Longarone. – Quasi „Übernachten in Erinnerungskultur“. Zunächst gewöhnungsbedürftig: Massivster Beton. Große, aber meist wohl ungenutzte Gemeinschaftsflächen. Die Zimmer sind jedoch modernisiert und sehr angenehm; für München-Venedig-Wanderer in jedem Fall eine kleine Oase, nachdem man viele Alpenhütten hinter sich gelassen hat.

Unendlich lange Gedenktafel in Longarone

Dieser Artikel ist Teil der Blogparade „Mein Outdoor-Kulturtipp“, die ich initiiert habe. Noch bis zum 15. März 2016 haben Blogger die Möglichkeit, mit einem eigenen Beitrag an der Blogparade teilzunehmen. Auf Twitter kannst Du dem ganzen unter #OutdoorKultur  folgen.    

  1. Pingback: Meine Lieblingsfundstücke im März 2016 - soschy on tour

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